Oder besser: wie wir das Segeln lernten…
Kommen Sie mit zur Erlebnisfahrt Stuttgart-Konstanz 2012 hieß es im Anschreiben, erleben Sie den neuen E300 BlueTEC HYBRID und die “Effizienz-Champions” von Mercedes-Benz.
Dies ließ ich mir nicht zweimal sagen und schon saß ich am Freitagmorgen im ICE 515, der mich vom Kölner HBf direkt nach Stuttgart bringen sollte. Ein Shuttle brachte uns - im Zug saßen nämlich noch weitere Teilnehmer die der Einladung gefolgt waren - auf direktem Wege nach Möhringen, dem Hauptsitz der Daimler AG bzw. deren Presseabteilung.
Nach einem sehr freundlichem Empfang und einer kleinen Stärkung hatte ich auch schon den Schlüssel und das Roadbook zur Tour in der Hand. Die Wahl fiel auf ein T-Modell - der Grund hierfür ist frappierend einfach: es stellt den einzigen Hybrid-Kombi der Welt dar.
Die Ansage von Mercedes ist groß: lediglich 4,2 Liter Verbrauch per 100 Kilometer (entspricht 109 Gramm CO2/Km) soll er sich genehmigen - ich werde es testen!
Gleich nach dem Start fällt eines sofort auf - es gibt keinen Start, jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Der elektronische Zündschlüssel löst die Lenkradsperre, die Displays erwachen und im Zentraldisplay des Kombiinstruments erscheint schlicht ein grünes “READY”. Man legt mit dem rechts hinter dem Lenkrad angeordneten Wählhebel die Fahrstufe “D” des neuen 7-G Tronic PLUS genannten Automatikgetriebes ein und löst langsam den Fuß vom Bremspedal.
Was passiert - der Wagen rollt absolut lautlos von der Piazza in Möhringen, Schranke auf, Querverkehr passieren lassen und los zur Ampel, der Dieselmotor springt urplötzlich an und der Wagen beschleunigt umgehend um sogleich nach dem Halt an der Ampel wieder zu verstummen. Doch hierbei kommt der Komfort der Fahrzeuginsassen nicht zu kurz, denn Infotaiment, elektrische Helfer und die Klimatisierungsautomatik sind weiterhin aktiv.
Die Ampel zeigt grün, also Fuß von der Bremse aufs Gaspedal gewechselt, mit einer enormen Kraft beschleunigt der Motor den Wagen - kein Wunder wird er doch dank Boost-Funktion des 25KW starken Elektromotors gleich in eine andere Leistungsliga gehoben als für gewöhnlich mit einem 2,2 Liter Triebwerk verbunden wird.
Wir fädeln uns ein und fahren auf die A81 in Richtung Süden - das Überraschende ist, dass man nichts merkt von den Besonderheiten die hier an Bord sind. Keine mysteriösen Schalter oder Hebel, keine wilden Anzeigen oder Symbole die nur verwirren könnten. Alles ganz normal und logisch angeordnet, wie eben in jedem anderen Mercedes.
Der E300 und ich schwimmen im fließenden Berufsverkehr mit, die herrliche Distronic PLUS hält hierbei mit Leichtigkeit Abstand und Anschluss an die vor mir fahrenden Verkehrsteilnehmer. Mehr Entspannung kann man wohl nur auf dem heimischen Sofa erleben - denn der Testwagen ist auch mit vollständig individuell verstellbaren Multi-Kontur-Sitzen ausgestattet.
Segel setzen
Jetzt aber wollen wir mal die Besonderheiten des BlueTEC HYBRID erleben - wie hieß es eben noch in der Erläuterung von Projektmanager Michael Weiss, der Wagen beherrscht “Coasting” zu Deutsch: Segeln.
Segeln? Mit einem Auto und dazu noch auf der Autobahn - wie soll das denn funktionieren?
Toll ist hierbei dass man eben nichts merkt, nichts verwirrendes oder gar beängstigendes geht von der Maschine bzw. ihrem Verhalten aus.
Und da - wir befahren die Autobahn mit gut 100Km/h - werden wir vom Geschwindigkeits-Limit Assistent erinnert das auf diesem Teilstück nur 70 Km/h erlaubt sind, also Fuss vom Gas und rollen lassen - dies setzt einen speziellen Algorithmus im E300 in Gange und in der optional anwählbaren Energierflussanzeige wird angezeigt, dass die Energie, die normalerweise beim Ausrollen nutzlos verschenkt wird, hier per Rekuperation im Lithium-Ionen-Akku gespeichert wird, um so später wieder vom Fahrer abgerufen werden zu können. Doch damit nicht genug, da die Straße auch über ein leichtes Gefälle verfügt schaltet sich jetzt noch der Verbrennungsmotor ab und der Wagen segelt!
Ja wirklich, er segelt, er nutzt die Energie um einige Hundert Meter (oder Kilometer, je nach gefahrener Geschwindigkeit) vollkommen ohne jeglichen Verbrauch fossiler Energieträger weiter zu kommen.
Dies alles geschieht so unauffällig, dass man wirklich ganz bei der Sache sein muss, um es “erleben” zu können. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase an die notwendigen Rahmenparameter entsteht schnell ein innerer Ansporn beim Fahrer: es wird zum Sport Kraftstoff einzusparen, doch ohne dabei zum Verkehrshindernis zu werden - immerhin bewegen wir uns hier in einem Mercedes, dieser ist nicht dazu gemacht, dass sich andere Verkehrsteilnehmer von ihm gestört fühlen sollen.
Es ist möglich bis zu 160 Km/h mit dem Wagen zu Segeln und es gibt hierbei sogar zwei Arten von Segelszenarien zwischen den der Fahrer beliebig und frei wählen kann: entweder “freies Rollen” mit minimaler Rekuperation oder “gebremstes Segeln” für Rekuperation mit erhöhtem Bremsmoment - alles was der Fahrer hierfür machen muss ist den Wunsch nach längerem Segeln mittels rechtem Lenkradschaltpaddle zu übermitteln. Dies ist besonders sinnvoll wenn es sich um eine längere Bergabfahrt handelt oder man an eine Ampel die Rotlicht zeigt heran rollt.
http://www.youtube.com/watch?v=NQm-bLHAx5s
Das gesamte System ist so unauffällig verbaut, dass es weder Einschränkungen bei der Ladekapazität (Volumen oder Gewicht) gibt, noch andere Faktoren die im täglichen Umgang mit dem Fahrzeug stören könnten. Elektromotor und Akku sind auf die gesamte Lebenszeit des Fahrzeugs ausgelegt. Der Fahrer braucht sich also nicht umstellen wenn er von einem gewöhnlichen Fahrzeug auf den BlueTEC HYBRID umsteigt. Dennoch wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit nach einigen Kilometern ebenfalls der Faszination erlegen sein - so wie ich es bin.
Oh da ist auch schon die Abfahrt in Richtung Konstanz, also wollen wir doch mal Revue passieren lassen was wir auf unserer Fahrt mit dem Hybriden erlebt haben: es ist ohne weiteres möglich bei vollkommen normaler Fahrweise auf Verbräuche um 5 Liter zu kommen (anzumerken sei an dieser Stelle dass das T-Modell ohnehin mit Minimum 4,5 Litern Verbrauch pro 100 Kilometer angegeben wird, so also ein klein wenig oberhalb der Limousine liegt).
Gerne würde ich jetzt noch weiter mit dem Wagen fahren, doch mein Ziel ist schon in Sichtweite, da steht auch schon der Hinweis zum Hotelparkplatz. Ich bremse den E300 ab und der Motor schaltet sich ab, da ich mittlerweile ein Gefühl für sein Benehmen entwickelt habe, kann ich mit Leichtigkeit rein elektrisch und praktisch völlig geräuschfrei die lange Einfahrt zum Portier fahren und ernte so erstaunte Blicke.
Wenn man es darauf anlegen möchte kann man bei geringer Fahrgeschwindigkeit bis zu zwei Kilometer schaffen rein elektrisch unterwegs zu sein - warum nicht eine weitere Strecke? Ganz einfach, weil die weit größere Akkus nötig gemacht hätte und somit mehr Gewicht, mehr Kosten und weniger Effizienz und weniger Kraftstoffeinsparpotential bedeutet hätte. Der E300 BlueTEC HYBRID jedoch wiegt so nur 100 Kilogramm mehr als ein vergleichbares E-Klasse Modell und emittiert dennoch rund 10 Tonnen weniger CO2 über seinen Lifecycle (man spricht hier bei einem solchen Fahrzeug meist von 15 Jahren und 250.000 Kilometern).
Mein Fazit: ein tolles Auto, das ab dem 3.Quartal 2012 mit Sicherheit zahlreiche Kunden ebenso glücklich machen wird, wie es bei mir der Fall gewesen ist.
Mehr zu lesen von Marc J. Christiansen gibt es auf seinem Blog fuenfkommasechs.de, auf dem er sich unter anderem den allerschönsten Seiten der S-Klassiker der Achtziger Jahre widmet.